@ Thea
Das Verkehrssystem der Hauptstadt war einmal Vorbild. Heute wirkt es orientierungslos. Rund 100 Kilometer fahren die Berliner am Tag.
"Das Handwerk, das nur den eigenen Kiez bedient, gibt es kaum noch." Wenn er morgens von seiner Wohnung in Prenzlauer Berg aufbricht, geht es zuerst zu seinem Lager in Britz und dann zum Kunden. Ein täglicher Dreiecksverkehr also. Den Standort für das Lager hat er gewählt, als er viele Kunden im Berliner Südwesten hatte, aber sein Markt ist gewandert, und er kann mit Wohnung und Lager nicht immer wieder umziehen.
Also müssen die Aufträge mit mehr Fahrkilometern bearbeitet werden – und da wird dann die Pünktlichkeit ein ganz wichtiges und zerbrechliches Gut. Michael Zenker ist über jeden Tag froh, an dem die Fahrerei einmal ohne größere Hindernisse und Zwischenfälle abgeht. Das könnte auch Klaus Wohnig (46) unterschreiben. Er fährt für einen ambulanten Pflegedienst mit dem Stammgebiet Neukölln/Kreuzberg. Seine Touren reichen bis nach Charlottenberg und Steglitz hinein. Bei einer Runde mit sechs Patienten sitzt er eineinhalb bis zwei Stunden im Auto. "Es gibt auch Runden mit zehn Patienten.
Handwerker sind auf kurze Fahrzeiten angewiesen
An manchen Tagen sind zusätzlich Einkäufe zu erledigen. 20 bis 30 Prozent unserer Arbeitszeit sind Fahrzeit." Umsteigen auf Bus oder Bahn? Unvorstellbar, das würde vier bis fünf Stunden mehr Zeit kosten. Die Verkehrssituation ist nicht durchgängig schlecht, aber doch häufig grenzwertig. "Morgens im Berufsverkehr kann es schon mal 45 Minuten von Kreuzberg nach Charlottenburg dauern".
Geschwindigkeit ist nicht alles, aber ohne Tempo wären die langsameren Momente des Lebens gar nicht möglich. Doch hört man nicht selten die Meinung, auf den Straßen würde eine sinnlose Hast herrschen. In seiner Geschichte "Momo" erfand der Kinderbuchautor Michael Ende die bösen "Zeitdiebe" – Männer in grauen Anzügen, die mit ihren Minutenkalkulationen den großzügigen Zeitvorrat des Lebens kaputt machten.
Sind die Zimmermeister und Pflegedienstfahrer also Zeitdiebe, wenn sie möglichst kurze Fahrzeiten wünschen? Nein, es ist umgekehrt. Ein zäher Verkehr raubt ihnen – und ihren Kunden – wertvolle Zeit. Schnelligkeit kann ein Gebot der Sorgfalt sein. Wer entschleunigen will, muss erst mal beschleunigen. Dabei kommt man um motorisierte Verkehrsmittel nicht herum. Es ist keine Marotte, dass Michael Zenker und Klaus Wohnig ihr Auto wie ihren Augapfel hüten.
Strikte Zeitfenster sind im Handwerk die Regel
"Das Handwerk kann nicht auf öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad umsteigen", sagt Daniel Jander von der Pressestelle der Berliner Handwerkskammer. 17.000 der 30.000 Mitgliedsbetriebe sind besonders stark auf Kraftfahrzeuge angewiesen, bei 80 Prozent sind es Kleintransporter bis 2,8 Tonnen. Sie dienen, angesichts immer aufwendigerer Werkzeuge und Materialien, als fahrende Werkstatt und Lager. Zugleich sind die Einsatzorte immer weiter verteilt. Wer sich spezialisiert, muss den Einzugsbereich vergrößern. "Das Handwerk ist heute viel abhängiger von einem flüssigen Straßenverkehr. Deshalb warnen wir vor weiteren Verlangsamungen."
Daniel Jander ist froh, dass in Berlin zum 1. November ein vereinfachter "Handwerksparkausweis" für Gebiete mit Parkraumbewirtschaftung eingeführt wird. Er kann eine ganze Reihe von Gewerben aufzählen, für die Schnelligkeit und Pünktlichkeit wichtig sind: Auf größeren Baustellen müssen strikt bestimmte Zeitfenster eingehalten werden, um den Gesamtablauf nicht durcheinander zu bringen. Aber auch der private Hausbesitzer, der sich extra frei nimmt, muss sich darauf verlassen können, dass der Dachdecker pünktlich kommt.
Zwei Drittel der Lieferzeit einer Pizza für die Fahrt
Es ist vor allem die Zunahme von Dienstleistungen, die ein neues Tempobewusstsein mit sich bringt. Natürlich musste auch früher schnell gearbeitet werden, aber das geschah überwiegend im Innern von Fabrikhallen, Kaufhäusern und Großbüros. Heute haben sich viele Arbeitsgänge zu eigenen Diensten entwickelt, die sich von Einsatzort zu Einsatzort bewegen. Diese "Externalisierung" führt dazu, dass viele Gewerbe und Berufe in wachsendem Umfang mobil sein müssen.
Das Gesundheitswesen zum Beispiel, mit seinen Kurierdiensten für Arzneimittel, Dentallabor-Produkten, Blutkonserven, mit Rettungsdiensten, ärztlichen Bereitschaftsdiensten und dem Großbereich der ambulanten Pflege. Aber auch im Bereich "Essen und Trinken", in dem das Catering, der Getränkenotdienst, der Bio-Bringservice und viele andere Geschäftsideen am Start sind, wird die Qualität der Lieferung wesentlich durch die Fahrzeit beeinflusst.
Der Klassiker ist natürlich der Pizza-Service. Die Firma "Joey’s Pizza" ist mit bundesweit 5000 Mitarbeitern und täglich 32.000 ausgelieferten Gerichten einer der Branchen-Großen in Deutschland. "Eine Joey’s Pizza soll spätestens 30 Minuten nach der Bestellung beim Kunden sein", erklärt Katja Latuske von der Marketing-Abteilung, "Von dieser Vorgabe hängen Zuschnitt und Auswahl des Liefergebiets ab". Im Durchschnitt wird ein Drittel der Zeit für die Zubereitung von Pizza oder Salat aufgewendet und zwei Drittel für den Weg zum Kunden.
Fortsetzung folgt.......