Frankfurter Allgemeine
Weil oft zu wenige Fahrgäste die Busse nutzen, gehen viele Kommunen einen anderen Weg: Sie ersetzen den Linienverkehr durch das Anrufsammeltaxi.
Von Kai Ober, Pfungstadt
Die alte Dame wartet seit Minuten auf ihr Anrufsammeltaxi an der Haltestelle in der Pfungstädter Hauptgeschäftsstraße. Eine halbe Stunde davor hatte sie das lokale Transportmittel per Telefon bestellt. Sie muss tief Luft holen, damit ihre Stimme den Verkehrslärm übertönt. „Ich weiß auch nicht, bisher kam das Taxi immer pünktlich“, sagt sie. Margarethe Erlbach kommt aus dem Stadtteil Eschollbrücken, der vier Kilometer von der Kernstadt entfernt liegt. „Ich muss jede Woche zum Arzt ins Stadtzentrum. Seitdem der Bus nicht mehr fährt, nehme ich das Sammeltaxi.“
Seit Dezember 2011 bietet die Stadt Pfungstadt ein Anrufsammeltaxi, kurz AST, als öffentliches Verkehrsmittel innerhalb ihrer Stadtgrenzen an. Das Taxi ersetzt die innerstädtische Buslinie, die im vorigen Jahr eingestellt wurde. Der Weiterbetrieb des Linienverkehrs wäre zu teuer geworden. Die Auslastung war regelmäßig zu niedrig. Reiner Maurer von der Stadt Pfungstadt spricht von fehlender Wirtschaftlichkeit. Erlbach hatte schon geahnt, dass die Linie irgendwann eingestellt würde. Sie war oft genug die Einzige, die im Bus saß. Sie sieht ein, dass das nicht so weiterlaufen konnte.
„Wenn wir Pech haben, bekommen wir eine kleine Stadtrundfahrt“
Ein Kunde muss sein Taxi spätestens eine halbe Stunde vor Fahrtbeginn telefonisch an eine der festgelegten 74 Haltestellen bestellen. Von dort aus fährt es für den Preis von zwei Euro, ermäßigt ein Euro, jedes gewünschte Fahrtziel innerhalb der Stadtgrenzen an, es fährt also bis vor jede Haustüre. Die Fahrzeuge sind immer werktags von 5 Uhr morgens bis nachts um 1 Uhr unterwegs, sonn- und feiertags erst von 9 Uhr an. In den Nächten auf Samstag und Sonntag kann man das Taxi sogar bis 3 Uhr nachts rufen.
Als das Sammeltaxi, ein Kleinbus, kommt, sitzen schon drei ältere Fahrgäste darin. „Wenn wir Pech haben, bekommen wir eine kleine Stadtrundfahrt“, prophezeit Erlbach. Der Fahrer weist sie freundlich auf einen der freien Plätze. Nachdem das Ruftaxi eine Weile gefahren ist, stellt sich heraus, was Erlbach meinte: Der Kleinbus fährt kreuz und quer durch die Stadt. Am Bahnhof setzt er zwei Fahrgäste ab, die mit dem Zug weiterwollen. Zwei Straßen weiter steigt ein Frau mit einem Kleinkind ein. Der Kinderwagen wird im Kofferraum verstaut. Die Frau will zum Kindergarten. Immer wenn das Fahrzeug auf dem Weg Richtung Eschollbrücken scheint, biegt es doch wieder in irgendeine Seitenstraße ab.
„15 Minuten Verzögerung müssen bei jeder Fahrt mit eingeplant werden“
Hier liegt der große Unterschied zu einem normalen Taxi. Die Fahrgäste in Pfungstadt haben keinen Anspruch darauf, dass sie ihr AST auf direktem Weg zum Ziel bringt. Bei zwei oder mehr Fahrgästen legt der Chauffeur die nach seiner Meinung günstigste Route fest. Dabei spielt es keine Rolle, wer zuerst eingestiegen ist, sondern welches Ziel am nächsten liegt. „15 Minuten Verzögerung müssen bei jeder Fahrt mit eingeplant werden“, sagt Mariam Qureshi. Ihr kleines Unternehmen mit seinen acht Fahrzeugen hatte bei der Ausschreibung gegenüber dem Mitbewerber den Zuschlag bekommen. Drei Kleinbusse hat sie danach dafür angeschafft, davon ein Ersatzfahrzeug. In jedem Bus kann sie sieben Fahrgäste mitnehmen. Gepäck transportiert sie umsonst im Fonds. Zwei ausgeklappte Rollatoren kann sie mitnehmen. Dann aber wird es eng.
Bei den Fahrpreisen von zwei und einem Euro könnte Qureshi den Sammeltaxi-Dienst nicht kostendeckend betreiben. Deshalb gibt ihr die Stadt einen jährlichen Zuschuss, der aktuell bei 110.000 Euro liegt. So erwirtschafte sie zumindest einen kleinen Gewinn, sagt die Unternehmerin. Das Anrufsammeltaxi ist eine freiwillige Leistung der Stadt. Das heißt, allein Pfungstadt trägt die finanzielle Verantwortung dafür.
Das Taxi fährt nur dann, wenn auch eine Fahrt gewünscht ist
Die Kommune mit ihren 25.000 Einwohnern ist mit dem Anrufsammeltaxi keine Ausnahme. Allein im Landkreis Darmstadt-Dieburg gibt es sieben vergleichbare Dienste. Seeheim-Jugenheim war in den achtziger Jahren eine der ersten Gemeinden, die das Sammeltaxi einführten. Dabei unterscheiden sich die Dienste im Detail erheblich. In Seeheim-Jugenheim verkehrt das AST nach einem Fahrplan und fährt eine festgelegte Route ab. Der einzige Unterschied zu einer regulären Buslinie besteht darin, dass das Ruftaxi nur dann fährt, wenn Fahrgäste auch mitfahren wollen. In anderen Kommunen ist das Anrufsammeltaxi nur zu eingeschränkten Zeiten unterwegs. In Groß-Zimmern etwa von montags bis donnerstags bis 14.30 Uhr. Allen gemein ist, dass der Fahrgast das Taxi frühzeitig vorbestellen muss, spätestens eine halbe Stunde vor Fahrtbeginn. Auch die Fahrpreise liegen meist nicht höher als zwei Euro. Nur Münster bildet hier eine Ausnahme: Vier Euro kostet hier die Fahrt mit dem Sammeltaxi. In anderen Landkreisen sieht es ähnlich aus.
Der Grund für die Einrichtung eines Sammeltaxi-Dienstes ist immer gleich: eine zu schwache Frequentierung des regulären Linienverkehrs, die einen wirtschaftlichen Betrieb unmöglich macht. Aus Sicht der Stadt Pfungstadt hat sich die Umstellung des Linienverkehrs auf das Anrufsammeltaxi schon gelohnt. Der Busverkehr war Maurer zufolge ungefähr doppelt so teuer wie das Sammeltaxi.
„Vor allem in den Nachtstunden und am Wochenende wird das Taxi von jüngeren Menschen genutzt“
Für die Stadt und die Nahverkehrsgesellschaften ist es in erster Linie eine Kostenfrage, ob eine Buslinie wegen fünf bis zehn Fahrgästen am Tag aufrechterhalten wird, auch wenn einzelne Einwohner auf den Bus angewiesen sein mögen. Erlbach hat nie gelernt, Auto zu fahren, und ihr Mann darf es heute nicht mehr. Egal, ob sie zum Arzt oder zum Einkauf muss, sie ist auf das Sammeltaxi angewiesen. Früher ist sie die vier Kilometer von Pfungstadt nach Eschollbrücken zur Not, wenn der Bus nicht mehr fuhr, auch gelaufen. Selbst wenn sie wollte, so spielten heute ihre Beine nicht mehr mit, sagt die 80 Jahre alte Frau. Für sie ist das Sammeltaxi die einzige Möglichkeit, in die Stadt zu kommen.
Im ersten halben Jahr habe das Anrufsammeltaxi etwa 20.000 Personen befördert worden, erläutert Maurer. Anfangs war die Stadt überrascht angesichts der großen Nachfrage. Mittlerweile haben sich die Fahrgastzahlen auf einem hohen Niveau eingependelt. Den Kleinbus nutzten nicht nur Senioren, sondern auch Schulkinder und Pendler, die morgens zum Bahnhof führen und mit dem Zug weiter nach Darmstadt reisten. „Vor allem in den Nachtstunden und am Wochenende wird das Taxi von jüngeren Menschen genutzt“, hat Maurer beobachtet. Am häufigsten fährt das AST den Bahnhof, Arztpraxen und Supermärkte an.
Probleme gibt’s nur bei bei größeren Veranstaltungen
Auf seinem Tisch landen auch die Beschwerden gegen das Anrufsammeltaxi. Probleme gab es bisher vor allem bei größeren Veranstaltungen wie dem Heinerfest in Darmstadt, als die Nachfrage nach Fahrten zum und vom Bahnhof groß war. Doch die Beschwerdequote liege bei einem Prozent, sagt Maurer.
Die alte Frau Erlbach stört es nicht, dass es manchmal ein paar Minuten länger dauert, bis sie zu Hause ist. Sie ist froh, dass sie bis vor die Haustür gefahren wird. „So gut wie heute habe ich mich nie in Pfungstadt ausgekannt“, sagt sie.